Joachim Schulz-Marzin
Der Wundertäter in Dinslaken
„Eine sachte Sonne durchwärmte das Land … Auf dem Bahnhofsvorplatz saßen Menschen, die sich an der Vorfrühlingssonne wärmten“. Einem Personenzug entstiegen zwei Männer mit langem Haupthaar und mächtigen Bärten. Gekleidet waren sie wie „griechische Priester“. Ihre Kopfbedeckung, eine Kamilawka, erinnerte an orthodoxe Kleriker. So gewandet betraten Stanislaus Büdner und Johannis Weißblatt „die Stadt Dinsborn, und das war eine mittelgroße Stadt am Niederrhein in der Nähe der Grenze.“ 1
Unmittelbar zu Beginn des zweiten Teils der Trilogie „Der Wundertäter“ macht uns der Autor bekannt mit Stanislaus Büdner, der Hauptperson seines Romans, und Dinsborn, dem Schauplatz des zweiten Bandes. Hinter der Figur Stanislaus Büdner und seinen Handlungen verbirgt sich der 1912 im brandenburgischen Spremberg geborene Erwin Strittmatter und hinter Dinsborn verhüllt sich Dinslaken. „Mein Vater“, schreibt der zweite Sohn aus erster Ehe Knut Strittmatter, „habe immer alles benutzt für seine Romane: seine Bäckerlehre, Redakteurszeit, Figuren aus der Familie, seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, die ewige Suchbewegung des Lebens.“ 2
Im April 1935 bewarb sich Strittmatter als Leiter für eine geplante Zuchtanlage des Tierparks „Diwa“ in Dinslaken. Schon wenige Tage später trat er die Stelle an und blieb sechs Monate am Niederrhein. Wegen eines Konfliktes mit seinem Chef kündigte er. Aus einem Schreiben des Tierparkleiters Weidemann geht hervor, dass Strittmatter nicht solo war. Im September und Oktober betätigte sich Waltraud Kaiser, Strittmatters spätere erste Ehefrau, als „Haustochter“ in Dinslaken.3 Danach arbeitete sie in Beulwitz/Thüringen auf dem „Edelhof“. Hier war Strittmatter selbst von September 1936 bis Mai 1937 angestellt. Er arbeitete „in Haus und Garten, als Autofahrer und als Berater meiner Angorakaninchenfarm“, schrieb Hedwig Ruetz in Strittmatters Zeugnis.4
Im zweiten Wundertäter-Band versetzte Strittmatter den „Edelhof“ nach Dinslaken und schilderte, wie Stanislaus Büdner Tätigkeiten wie bei Hedwig Ruetz verrichtete. Im Roman allerdings heißt die Besitzerin Elly Mautenbrink und war eine wohlhabende Kriegerwitwe. Sie beschäftigte Stanislaus, nachdem er seine Stellung im „Weißblattschen Betonbau“ verloren hatte. Im dritten Band erinnerte sich Stanislaus, nun mehr Redakteur einer DDR-Kreiszeitung, an seine Zeit als „Edelhofdichter“. Wegen der dort gemachten Erfahrungen als Poet wetterte er gegen seine Zeitungskollegen und forderte von ihnen: „Schreib lebendig, Mensch!“5 Für Elly Mautenbrink sollte Büdner im Wesentlichen deren umfangreiche Bibliothek neu aufstellen. Die Lektüre der zu ordnenden Bücher beanspruchte Stanislaus derart, dass er auf Avancen seiner Arbeitgeberin nicht reagierte. Stattdessen becircte Elly den „Patriarchen“, wie der Vater von Büdners Kriegskameraden Johannis Weißblatt im Roman genannt wird.
1949, vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, waren Büdner und Weißblatt mit dem Zug in Dinslaken angekommen. Wohl nicht allein aus Freundschaft hatte der damals 37jährige Stanislaus Büdner Johannis Weißblatt, den einzigen Sohn eines Bauunternehmers, begleitet. Primär erhoffte sich Stanislaus Arbeit beim „Weißblattschen Betonbau“ und im Besonderen vor allem Wissen und Fertigkeiten für das eigene Schreiben. Denn Stanislaus wollte unbedingt lernen, wie man Gedichte verfasst und Erzählungen schreibt. Johannis hatte vor dem Krieg zwei Lyrikbände veröffentlicht, die jedoch kaum einer beachtete. Dennoch fühlte er sich als ein Poet, dem besondere Rücksicht gebühre. Stanislaus tat ihm diesen Gefallen und übernahm während ihrer Zeit bei der Wehrmacht freiwillig viele seiner Dienste, damit Johannis in Ruhe schreiben konnte – was er allerdings nicht tat.
In Dinslaken stellte Stanislaus fassungslos fest, dass sich Johannis nicht mehr als Dichter verstand, sondern sich als Philosoph und Religionsgründer sah. Er trug weiter seine mönchische Kleidung und gründete den „Santorinischen Bruderorden“. Als erstes und einziges Mitglied gewann er eine Halbweltdame aus Düwelsheim6, die wegen ihres Aussehens und ihrer Wirkung auf Männer viele Spenden akquirieren konnte. Auf dem Weg der Erleuchtung folgte Stanislaus seinem Kriegskameraden nicht.
Da Johannis Weißblatt keinerlei Interesse zeigte für das Unternehmen seiner Eltern, bestimmte sein Vater, der „Patriarch“, Stanislaus zu seinem Nachfolger. Der „Patriarch“ hatte erkannt, dass Stanislaus mit den Arbeitern umgehen und selbst tüchtig anpacken konnte. Stanislaus‘ Aktivität allerdings kam bei den Arbeitern nicht immer gut an, denn seine zupackende Art brachte ihren Arbeitsrhythmus durcheinander und minderte ihre Produktivität.
Neben seiner Tätigkeit in der Firma setzte Stanislaus kontinuierlich seine Schreibversuche fort. Durch Johannis‘ Vermittlung sollte er Gedichte in der renommierten Düwelheimer Zeitschrift „Übersinn“ veröffentlichen. Doch jedes Mal, wenn er neue Gedichte vorlegte, monierte der Herausgeber, Büdners Schreibstil sei nicht mehr en vogue. Dadaismus, Expressionismus, Surrealismus oder Symbolismus seien passé. Diese ständig neuen Ismen machten Stanislaus mutlos und ließen ihn an seiner Dichtkunst verzweifeln.
Hingegen erschienen Büdners Essays im „Übersinn“. Allerdings nicht unter seinem Namen, sondern dem seines Freundes Weißblatt. Der gab sich als Autor aus und veröffentlichte Stanislaus‘ Texte unter seinem Namen. Der Betrug führte zum Zerwürfnis der beiden ehemaligen Kriegskameraden. Zeitgleich mit dem Ende ihrer Freundschaft verlor Stanislaus seine Stellung im „Weißblattschen Betonbau“. Der Patriarch wurde von seiner Frau Friedesine unter Druck gesetzt, dass sie ihren Anteil aus der Firma nähme, wenn Stanislaus die Nachfolge antrete.
„Die Lieder sind verklungen,
Die Spuren, sie sind verweht.
Süßherbe Erinnerungen,
Die Zeit zaust mich und vergeht.“
Diese Verse, die Stanislaus während seiner Rekrutenzeit auf Lilian Pöschel verfasst hatte, sowie einige andere Gedichte trug Stanislaus auf einem „gehaltvollen Abend“ bei Elly Mautenbrink vor. Nach der Rezitation stammelte die Gastgeberin erregt „Superb“ und fügte „Exquisit!“ hinzu. Die Lyrik gefiel Elly derart, dass sie den arbeitslosen Stanislaus für Haus und Garten einstellte und ihm eine Wohnung auf dem „Edelhof“ überließ. So lernte Stanislaus auf Ellys Festen die bessere Dinslakener Gesellschaft kennen. „Ob Strahlenforscher, ob Chemieprofessor, Fabrikant, Popignore7, Sänger oder Schauspieler, keiner war sich zu schade für die Mautenbrinksche Abendgesellschaft.“ Als Elly jedoch erfuhr, dass Stanislaus verheiratet war, verlor er Stellung und Wohnung. Damit endete Stanislaus‘ Zeit in Dinslaken.
Büdner schloss sich einer Theatergruppe an und reiste mit ihr von Ort zu Ort. Gleichzeitig „schrieb, schrieb und strich“ er an einem Schauspiel, welches das Leben am Niederrhein auf die Bühne brachte. Von einem Erfolg des Stückes wird nichts gesagt. Wie Stanislaus Dramatiker wurde und das Schauspiel auf die Bühne brachte, erinnert an Strittmatters eigene Entwicklung zum „Theaterdichter“. Sein erstes Stück „Katzengraben“ wurde mit Hilfe Bertolt Brechts 1953 vom Berliner Ensemble aufgeführt. Nach der Station am Theater kehrte Stanislaus zurück nach „Waldwiesen“, seinem Heimatort in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR. Dort wurde er Gemeindesekretär, trat der SED bei und nahm an Parteischulungen teil.
Ganz offensichtlich enthält die Trilogie „Der Wundertäter“ zahlreiche persönliche Erlebnisse Strittmatters. Mit Hilfe der Biographien von Eva Strittmatter und Günther Drommer sowie Annette Leo8 lassen sie sich teilweise aufdecken. Für Dinslaken und den Niederrhein sind die 432 Seiten des zweiten Bandes von hoher Bedeutung. War doch Strittmatter 1935 für ein halbes Jahr als Tierpfleger auf einer Angorafarm in Dinslaken tätig. Ende der 1940ziger Jahre, als der Roman spielt, lag Dinslaken in Trümmern und entsprach keinesfalls mehr dem Ort, den Strittmatter kennengelernt hatte. Deshalb erwähnt Strittmatter Zerstörungen, Elend und Hunger der Nachkriegszeit in Dinslaken nur recht allgemein. „Die Menschen hungerten, und viele suchten nach Nahrung, und wenige forschten nach den Ursachen ihrer Not“. Nach 1935 hat Strittmatter weder Dinslaken noch den Niederrhein jemals wieder gesehen. Im Roman verfremdete er die Ortsnamen: So wird aus Dinslaken Dinsborn, aus Hamborn Humborn und Düsseldorf wird zu Düwelheim. Hinter Stanislaus Büdners Heimatort Waldwiesen verbirgt sich Bohsdorf. Dorthin war 1919 die Familie Strittmatter sieben Jahre nach Erwins Geburt in Spremberg gezogen.
In den Westen begleitete Strittmatter seine Freundin und spätere erste Frau Waltraud Kaiser. In Dinslaken arbeitete sie als Hausmädchen.9 Im Roman heißt Büdners erste Ehefrau Lilian Pöschel. Aber mehr als ihr Name wird nicht erwähnt. Dennoch spielen Frauen sowohl für die Hauptfigur des Romans als auch für Erwin Strittmatter eine überaus wichtige Rolle. Beide, Stanislaus und der Wundertäter-Autor, flüchteten oft aus den Komplikationen der einen Beziehung in eine neue. „Man muss wieder einmal gespannt sein, wie sich die Knoten, die das Schicksal mit Käte, Monette, Gertrud, Maria in mein Leben geschlungen hat, lösen werden“, notierte Strittmatter.10
Strittmatters Alter Ego Stanislaus erlebte in Dinslaken zunächst eine intensive Liebesbeziehung zu Rosa Lupin. Als sich der „Knoten“ zu ihr löste, war er von Betty Lund hingerissen. Auf Spaziergängen mit der heftig umworbenen Rosa erkundete Stanislaus die Umgebung Dinslakens. Sie kehrten mehrmals ein in die Gaststätte „Zum Stappschen Hähnchen“, einem bekannten Lokal am Rhein. Hinter dem Lokal verbarg sich die Gaststätte „Haus am Stapp“, die Einheimische und Ausflügler in den dreißiger Jahren zum Hähnchen-Essen lockte. Rosa trägt Züge von Eva Braun, Strittmatters dritter Frau. Während des Schreibprozesses am Wundertäter hatten sich der ältere Erwin und Eva, sie war 18 Jahre jünger, kennen gelernt. 1956 heirateten sie und ein Jahr später erschien der erste Band der Roman-Trilogie.
Wie Eva Braun war auch Rosa Lupin erheblich jünger als der damals 37jährige Stanislaus. Aber weder der Altersunterschied beeinträchtigte ihre Amour fou, noch Rosas Vater, der seit Jahren im Weißblattschen Betonbau beschäftigt war und bewusst Abstand zum künftigen Chef Stanislaus hielt. Wie ihr Vater und ihr Onkel bekannte sich Rosa zum Sozialismus. Wohl nicht zufällig erinnern ihre politischen Überzeugungen und ihr Vornamen an Rosa11 Luxemburg. Ihren Onkel zog Rosa öfter ins Vertrauen und hoffte auf Ratschläge von ihm. Als sie erfuhr, dass Stanislaus mit Lilian Pöschel verheiratet war, kriselte es erheblich in ihrer Beziehung. Rosa solle Dinslaken verlassen, so der Onkel, und weit weg ein Studium beginnen. Als Rosa dem Rat folgte, löste sich die Liebesverbindung. Dennoch trug Stanislaus „sein Leben lang“ die Sehnsucht nach Rosa mit sich herum.
Mehr als über Elly Mautenbrinks Annäherungsversuche und denen anderer Damen Dinslakens erfährt der Leser über Betty Lund. „Sie war nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zu hübsch und nicht zu häßlich […]. Sehr begabt war die Lund für die Liebe.“ So lange Stanislaus am Theater arbeitete, entbrannte er für sie. Die Liebe „verdichtete sich also, und das Geld, das Stanislaus in seiner geheimen Rocktasche aufbewahrte, verflüchtigte sich allmählich.“
Während der Zeit in Dinslaken erinnerte sich Stanislaus häufig und dankbar an Melpo, einem jungen Mädchen von der größten Kykladen-Insel Naxos. Nach seiner und Weißblatts Fahnenflucht half ihnen Melpo und brachte beide in einem griechisch-orthodoxen Kloster in Sicherheit. Als Melpo im „Kykladen-Frühling“ den Novizen Stanislaus besuchte, küsste sie ihn. „So erfuhr Stanislaus, daß ihm die Liebe eines griechischen Mädchens gehörte.“
Dass Stanislaus in Griechenland geliebt wurde und er zurückgezogen und ungeschoren einige Zeit im Kloster verbringen konnte, entsprang wohl dem Wunsch Strittmatters, seinen eigenen Kriegseinsatz in Griechenland zu verklären und umzudeuten. Im Zweiten Weltkrieg diente er in einem SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment, das in Griechenland Juden und Zivilisten erschoss und Partisanen bekämpfte. Eine aktive Tat wurde Strittmatter jedoch nicht nachgewiesen. Wie viele seiner Generation zog er es vor, über seine Rolle als SS-Wachtmeister öffentlich zu schweigen.
1973, sechzehn Jahre nach dem ersten Band und 38 Jahre nach Strittmatters Aufenthalt in Dinslaken, erschien der zweite Teil „Der Wundertäter“. Darin siedelte Strittmatter Ende der 1940ziger Stanislaus Büdner, Hauptfigur der Trilogie, in Dinslaken an. Hier muss Stanislaus einerseits körperlich arbeiten und ist andererseits schriftstellerisch tätig. Besessen vom Schreiben verlässt Büdner Dinslaken, kehrt in sein Heimatdorf in der DDR zurück und hofft, dort als Schriftsteller zu reüssieren. Er tritt in die SED ein und wird Gemeindesekretär. Im dritten Band gerät er als Zeitungsredakteur in Konflikt mit den Behörden, vor allem mit der Stasi. Sowohl Stanislaus als auch Strittmatter wollten sich weder von der Partei noch staatlichen Instanzen etwas vorschreiben lassen und deshalb empfanden beide bald ein Unbehagen an der DDR.
Mit Büdners Ortswechsel von West nach Ost und dem Einstieg in die Politik ändert sich der Ton des Romans. In Dinslaken wird der Alltag eher skurril dargestellt und der westdeutsche Kulturbetrieb mit seinen Ismen schrill und schräg präsentiert. Im Osten hingegen kritisiert Strittmatter scharf die Lebensverhältnisse. Diese Tendenz verstärkt sich noch im letzten Band seiner Trilogie, in der aber Dinslaken nicht mehr vorkommt.
Anmerkungen
1) Wenn nicht anders angegeben, ist alles kursiv Gesetzte aus dem zweiten Band der Trilogie „Der Wundertäter“ von Erwin Strittmatter, Aufbau-Verlag, Berlin 2019, 432 Seiten.
2) www.tagesspiegel.de/kultur/streit-um-strittmatter-kritisch-mit-der-ddr-unkritisch-mit sich-selbst
3) Waltraud Kaisers Arbeitgeber in Dinslaken konnte nicht ermittelt werden.
4) Arbeitszeugnis von Hedwig Ruetz für Erwin Strittmatter, 19. Juni 1937. In: Erwin Strittmatter. Eine Biographie in Bildern. Hrsg. von Eva Strittmatter und Günther Drommer. Aufbau-Verlag. Berlin 2002. Seite 61
5) Erwin Strittmatter. Der Wundertäter. Dritter Band. Aufbau-Verlag. Berlin 2019. Seite 9
6) Mit Düwelsheim ist Düsseldorf gemeint.
7) So wird Johannis Weißblatt von Stanislaus Büdner bezeichnet.
8) Annette Leo. Erwin Strittmatter. Die Biographie. Aufbau-Verlag. Berlin 2012. 447 Seiten.
Zur Biographie von Eva Strittmatter und Günter Drommer siehe Anm. 4
9) Siehe Anm. 3
10) Leo. Seite 209
11) Außer bei Rosa spielt Strittmatter auch mit der Namensgebung anderer Personen.
Büdner nannte man Besitzer eines Hauses, einer Bude, mit wenig Land. Büdner waren Kleinbürger am Rande des Existenzminimums. Das trifft für die Herkunft von Stanislaus und Erwin Strittmatter zu.
Der Name Melpo ist abgeleitet von Melpomene und bezeichnet in der griechischen Mythologie die Muse der tragischen Dichtung.
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